Die Kanzlei Templin & Thieß Rechtsanwälte vertritt eine Leiharbeitnehmerin, die vor dem Landgericht Berlin eine Schadensersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben hat (Aktenzeichen 28 O 6/15). Gefordert wird der Lohnausfall in Höhe von 33.000 Euro. Gerügt wird die bewusste Nichtumsetzung der Leiharbeit-Richtlinie 2008/104/EG, weil der Gesetzgeber, die Regierung, die Verwaltung und die Gerichte die unbefristete Arbeitnehmerüberlassung bei schlechteren Arbeitsbedingungen bewusst sanktionslos gelassen und damit den Lohnausfall verursacht haben. Wir berichteten
Jetzt hat sich die Kanzlei an die Europäische Kommission gewendet und dort die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß § 258 AEUV beantragt. Vor der Klageerhebung muss ein zweistufiges Vorverfahren durchlaufen worden sein: Die Kommission hat – sofern sie die Rechtsauffassung des Antragstellers teilt – dem Staat durch ein informelles “Mahnschreiben” (“warning letter”, “lettre de mise en demeure“) Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Art. 258 Abs. 1 Hs. 2 AEUV). Dann gibt die Kommission die mit Gründen versehene Stellungnahme ab (Art. 258 Abs. 1 Hs. 1 AEUV). Kommt der Staat dieser Stellungnahme nicht nach, kann die Kommission den Gerichtshof anrufen (Art. 258 Abs. 2 AEUV).
Nachfolgend unsere Antragsschrift im Volltext:
Ihr Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit vom 21.03.2014 – COM (2014) 176
Vertragsverletzung durch die Bundesrepublik Deutschland
Sehr geehrte Damen und Herren,
als rechtlicher Vertreter der Leiharbeitnehmerin Frau … wende ich mich an Sie mit dem Antrag,
- ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Artikel 258 AEUV gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Verstoßes gegen Artikel 10 Abs. 2 S. 1, 2 der Richtlinie über Leiharbeit 2008/104/EG einzuleiten.
Begründung:
Gemäß Artikel 11 der EU-Richtlinie Leiharbeit 2008/104/EG waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie bis zum 05.12.2011 in nationales Recht umzusetzen. Hierzu gehörte unter anderem, „wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen“ für den Fall zu regeln, dass eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Leiharbeit vorliegt. Gegen diese Vorgabe haben die zuständigen Organe der Bundesrepublik bewusst verstoßen.
Ein Missbrauch der Leiharbeit liegt jedenfalls dann vor, wenn die Überlassung eines Arbeitnehmers über Jahre hinweg unbefristet erfolgt und wenn während dieser Zeit schlechtere Arbeitsbedingungen als im Entleihunternehmen gewährt werden. Die Arbeitnehmerüberlassung hat vorübergehend zu erfolgen. Die dauerhafte Schlechterstellung von Leiharbeitnehmern steht im eklatanten Widerspruch zu den Zielen der Richtlinie.
1.
Im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Richtlinie haben die Regierung und der Bundestag der Bundesrepublik Deutschland das Problem erkannt. Sie haben deshalb erwogen, für den Fall einer unbefristeten (nicht vorübergehenden) Überlassung Rechtsfolgen anzuordnen. So wurde ein Gesetzesentwurf diskutiert, der einen solchen Fall als einen Fall der Arbeitsvermittlung werten wollte.
Im Ergebnis hat sich der nationale Gesetzgeber auf Empfehlung der Bundesregierung dazu entschlossen, keine Rechtsfolge für den Fall der nicht vorübergehenden Überlassung und auch keine Rechtsfolge für den Fall der dauerhaften Schlechterstellung festzuschreiben. Eingefügt wurde lediglich der § 1 Abs. 1 Satz 2 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mit dem Wortlaut: „Die Überlassung eines Ar-beitnehmers erfolgt vorübergehend“.
2.
Das höchste deutsche Arbeitsgericht, das Bundesarbeitsgericht, hat im Anschluss daran in zwei Entscheidungen – Beschluss vom 10.07.2013 (7 ABR 91/11) sowie Urteil vom 10.12.2013 (9 AZR 51/13) sinngemäß folgendes festgestellt:
1.) Die nicht vorübergehende Überlassung, namentlich die unbefristete Überlassung, ist verboten.
2.) Der Gesetzgeber hat von einer Bestrafung dieses Verbotes bewusst abgesehen, weshalb dem Leiharbeitnehmer keine Rechte im Falle eines Verstoßes gegen das Verbot erwachsen.
3.
Die Regierung und die zuständige Aufsichtsbehörde der Bundesrepublik Deutschland stehen auf dem Standpunkt, dass den Verleih- und Entleihunternehmen kein rechtlicher Nachteil durch eine unbefristete Überlassung entstehen dürfe. Solange der Gesetzgeber keine klarstellende Regelung treffe, werde die Aufsicht führende Bundesagentur für Arbeit keine Maßnahmen ergreifen oder Anordnungen gegenüber Leihunternehmen treffen.
4.
Die aktuell regierende Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu ändern. Konkrete Gesetzesentwürfe liegen hierzu jedoch bis dato nicht vor.
Soweit angekündigt worden ist, zeitliche Grenzen einfügen zu wollen, bleibt die weitere Umsetzung wage. Ob der einzelne Leiharbeitnehmer in diesem Falle Rechte geltend machen kann und ob ein wirklich effektives Instrument im Sinne des Artikels 10 Abs. 2 Satz 2 geschaffen wird, ist völlig offen. Insbesondere ist zweifelhaft, ob der Missbrauch im Sinne des Artikels 5 Abs. 5 durch eine Regelung verhindert werden kann, die nur an das einzelne Leiharbeitsverhältnis, nicht aber an den zu schützenden Arbeitsplatz anknüpft.
5.
Ungeachtet der möglichen Gesetzesänderungen gilt seit dem 01.12.2011 folgendes:
Nach den letzten Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit dauern 14 % aller Leiharbeitsverhältnisse länger als 18 Monate (nachzulesen unter Bundestags-Drucksache 18/2368 vom 18.08.2014). Bei einer Gesamtanzahl von durchschnittlich 815.000 Leiharbeitnehmern (Stand 2013) arbeiten danach weit über 100.000 Leiharbeitnehmer in Langzeit-Leiharbeitsverhältnissen. Von diesen Leiharbeitnehmern arbeiten annähernd 95 % nach den Tarifen der Zeitarbeit, sie beziehen deshalb durchschnittlich lediglich 75 % der Vergütung von Stammarbeitnehmern (siehe IAB-Kurzbericht 13/2014). In welchem Umfang die über 100.000 Langzeit-Leiharbeitnehmer in dauerhaften bzw. unbefristeten Überlassungsverhältnissen sind, wird statistisch nicht erfasst. Der Anteil dürfte jedoch sehr hoch sein.
Die Bundesrepublik Deutschland verstößt somit fortlaufend und in eklatanter Weise gegen das Gebot aus Artikel 10 Abs. 2 der EU-Richtlinie Leiharbeit. Viele tausend Leiharbeitnehmer – so auch unsere Mandantin – arbeiten bis zum heutigen Tage in unbefristeten Leiharbeitsverhältnissen zu schlechteren Konditionen als die Stammarbeitnehmer. Die Gesetzessituation ist so, dass für Verleih- und Entleihunternehmen keine Veranlassung besteht, die Überlassungsverhältnisse zu beenden.
6.
Sollte Ende 2015/Anfang 2016 tatsächlich eine Gesetzesänderung erfolgen, so ist zweifelhaft, ob eine solche den Missbrauch in wirksamer, angemessener und abschreckender Weise verhindern kann. Jedenfalls kommt sie für all diejenigen Leiharbeitnehmer zu spät, die über den 01.12.2011 hinaus in unbefristeten Leiharbeitsverhältnissen geblieben sind und deshalb erhebliche finanzielle Verluste erleiden.
Sie erhalten anliegend eine Abschrift unserer Klage beim Landgericht Berlin (28 O 6/15), bei dem wir gemäß den nationalen Vorschriften eine Schadensersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben haben. Wir halten die beschriebene Situation für europarechtswidrig und sehen insoweit einen hinreichend qualifizierten Verstoß, der kausal für die schlechtere Bezahlung ist.
Wir möchten Sie als die zuständige Abteilung der Europäischen Kommission bitten, im Anschluss an Ihren Bericht vom März 2014 weitere Untersuchungen im Hinblick auf die Umsetzung des Artikels 10 in eigener Verantwortung einzuleiten. Für die Aufnahme von Untersuchungen sowie für eine Stellungnahme zu Ihrer Einschätzung der momentanen Situation danke ich im Voraus.
Mit freundlichen Grüßen
Thieß
Rechtsanwalt