EuGH: Kein Hartz IV für arbeitsuchende EU-Bürger

Die Bundesrepublik darf EU-Bürgern, die auf Arbeitssuche sind, „Hartz IV“-Leistungen verweigern. Das hat der Europäische Gerichtshof-Urteil vom 15.09.2015 -Rechtssache C-67/14 entschieden. Dies betreffe selbst jene EU-Bürger, die bereits eine gewisse Zeit gearbeitet haben. Der Staat müsse dabei nicht den Einzelfall prüfen, da bereits im Gesetz die persönlichen Umstände des Antragstellers berücksichtigt würden.

Geklagt hatte eine Frau, die in Bosnien geboren wurde, einen Schweden geheiratet hat und dadurch die schwedische Staatsangehörigkeit besitzt. Sie hatte in Deutschland weniger als ein Jahr gearbeitet und Arbeitslosengeld erhalten. Das zuständige Jobcenter Berlin-Neukölln stellte ein halbes Jahr später die Zahlung ein.

 

 

Was ist das rechtliche Problem?

Im Bundestag bestand die Sorge, dass schlecht ausgebildete Menschen nach Deutschland kommen, nur um Sozialleistungen wie Hartz IV zu beziehen. Darum fügte er 2007 eine Ausschlussklausel in das Sozialgesetzbuch ein. Danach wird Hartz IV nicht gewährt, wenn sich EU-Ausländer ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhalten. Diese Vorschrift ist der springende Punkt, denn genau an dieser Stelle prallen deutsches Recht und Europarecht aufeinander.

Viele Sozialgerichte im Land haben sich damit beschäftigt, ob der Ausschluss der Sozialleistungen gegen Europarecht verstößt. Dabei sind sie zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Deshalb ist die Thematik über das Bundessozialgericht beim zuständigen Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gelandet.

Was hat der Europäische Gerichtshof bislang gesagt?

EuGH hat bereits 2014 entschieden: EU-Bürger dürfen von Sozialleistungen ausgeschlossen werden, wenn sie gar nicht erst vorhaben, nach Arbeit zu suchen. Im damaligen Fall habe Deutschland einer in Leipzig lebenden Rumänin zu Recht Hartz IV verwehrt. Sie hatte sich niemals um Arbeit bemüht.

Was ist der Unterschied im aktuellen Fall?

Der 2014 entschiedene Fall war vergleichsweise einfach, weil die Klägerin ganz offensichtlich nicht nach Arbeit gesucht hatte. In diesen Fällen ist die EU-Unionsbürger-Richtlinie eindeutig. Aber es gibt noch weitere Konstellationen. Wie ist es zum Beispiel mit EU-Bürgern, die sich in Deutschland mit Kurzzeitjobs über Wasser halten, die hier also schon – zumindest zeitweise – gearbeitet haben? Um diese Frage ging es im aktuellen Fall einer aus Bosnien stammenden Frau, die inzwischen die schwedische Staatsbürgerschaft hat und mit ihren drei Kindern in Deutschland lebt. Die Kinder sind hier zur Welt gekommen. Die Mutter und die älteste Tochter hatten zwischen Sommer 2010 und Frühjahr 2011 immer wieder kurzzeitig gearbeitet. Für einige Monate hatten sie auch Hartz IV erhalten, aber dann griff die deutsche Ausschlussklausel. Der Fall ging vor Gericht.

Was hat der EuGH-Generalanwalt zum aktuellen Fall vorgeschlagen?

In seinem Schlussantrag, einer Art Gutachten für das Gericht, hatte der Generalanwalt drei Fälle unterschieden:

Fall 1: Ein EU-Ausländer reist ein, will aber gar nicht arbeiten. Hier sei ein Ausschluss von den Sozialleistungen gerechtfertigt. So hatte es der EuGH schon entschieden.

Fall 2: Ein EU-Ausländer reist ein und sucht Arbeit, hat aber noch keine gefunden. Auch hier ist ein Ausschluss gerechtfertigt.

Fall 3: In dieser Konstellation geht es darum, dass der EU-Bürger nicht nur Arbeit gesucht hat. Ein EU-Ausländer reist ein und bleibt hier länger als drei Monate. Er arbeitet kurzzeitig, verliert aber seinen Job vor Ablauf eines Jahres. Dann verstoße es gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn der EU-Bürger automatisch von den Sozialleistungen wie Hartz IV ausgeschlossen werde. Zumindest müsste in diesen Fällen genau geprüft werden, ob der betreffende EU-Bürger eine tatsächliche Verbindung zum aufnehmenden Staat nachweisen könne. Die kurzzeitige Arbeit und die familiäre Situation seien dafür wichtige Kriterien.

Was hat der EuGH nun entschieden?

Der EuGH fährt in seinem Urteil eine restriktivere Linie als der Generalanwalt. Einig sind sich beide in Fall 2. Hier sei ein Ausschluss von Hartz IV gerechtfertigt.

Für EU-Bürger, die hier schon kurzzeitig gearbeitet haben (Fall 3), setzt der Gerichtshof aber enge Grenzen. Wer nach einem Kurzzeitjob arbeitslos geworden ist, behält seine Eigenschaft als „Erwerbstätiger“ noch für sechs Monate. Für diese Zeit gibt es einen Anspruch auf Hartz IV. Danach nicht mehr. Es reicht die Prüfung durch die Behörden, ob der EU-Bürger kurzzeitig gearbeitet hat und aktuell Arbeit sucht. Dann gibt es Hartz IV für sechs Monate. Eine weitergehende individuelle Prüfung des Einzelfalles ist nicht erforderlich, sagt der Gerichtshof.

Müssen EU-Bürger ohne Anspruch auf Hartz IV automatisch eine Ausweisung fürchten?

Nein. Solange der EU-Bürger nachweisen kann, dass er Arbeit sucht und begründete Aussichten auf eine Einstellung hat, ist eine Ausweisung nicht möglich, sagt der EuGH. Es kann also weiter ein Aufenthaltsrecht bestehen, ohne dass nach EU-Recht ein Anspruch auf Hartz IV vorhanden ist.

Kann es sein, dass Arbeit suchende EU-Bürger in Deutschland dann keinerlei staatliche Unterstützung bekommen?

Im Urteil geht es darum, was das EU-Recht fordert bzw. nicht fordert. Eine andere juristische „Baustelle“ wäre aber die Lage nach deutschem Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Artikel 1 Grundgesetz (Schutz der Menschenwürde) grundsätzlich das Recht auf ein „Existenzminimum“ ab. In der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz heißt es, dass sich die dort vorgesehenen Zahlungen nicht wesentlich von Hartz IV unterscheiden dürfen.

Ob sich dies auf die Situation von nach Arbeit suchenden EU-Bürgern übertragen lässt, ist eine spannende Folgefrage. Nachdem der EuGH die Vorlagefrage des Bundessozialgerichts nun beantwortet hat, geht der Fall dorthin zurück. Anschließend könnte die Klägerin vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Übrigens: sie hat inzwischen wieder Arbeit gefunden. Der Streit dreht sich um die Zahlung von Hartz IV für vergangene Monate.